Prolog

„Wenn mich keiner danach fragt, weiß ich es. Aber wenn ich es jemanden, der mich fragt, erklären möchte, weiß ich es einfach nicht.“ (Augustinus)

Ich möchte hier nicht den unzähligen Büchern über die Zeit noch ein weiteres hinzufügen, sondern etwas von meiner subjektiven, psychologischen Zeiterfahrung berichten. Von der Lebenszeit:
Von der sozialen Zeit, der gestalteten Zeit, der gelebten Zeit, der erlebten Zeit, der erinnerten Zeit.

Wir haben Erinnerungen an die Vergangenheit und Ahnungen von der Zukunft und sind uns individuell bewusst, dass Zeit vergeht. Wir nehmen Zeit durch Veränderung wahr. Und davon möchte ich erzählen.

Da ist zunächst einmal das irritierende Gefühl, dass die innere Zeitwahrnehmung nicht der äußeren entspricht. Damit meine ich nicht nur das Phänomen, dass ein mit Ereignissen voll gepackter Tag als kürzer erlebt wird als ein ereignisarmer Tag; z.B. wenn wir wie als Kinder auf Weihnachten warten, uns auf etwas Langersehntes freuen oder er scheint erschreckend kurz, wenn wir etwas Unangenehmes erwarten wie z.B. eine Prüfung. Und dennoch handelt es sich jedes Mal um objektiv gleiche Zeitmenge.

Lebenszeit
Als Kind habe ich die vergehende Zeit höchstens insofern wahrgenommen, dass sie zwischen meinem Jetzt und den Wünschen und Erwartungen einen Abstand legte, den ich je nach dem ungeduldig oder nervös überwinden musste, Ereignisse herbei sehnte oder fürchtete.

Spürbarer war Zeit im Sinne von Veränderungen und Entwicklungen wie Schulzeit, Studium und Beruf; schließlich auch Pensionierung.
Es kam mir vor wie Häutungen. Meine Einstellungen und Vorlieben, meine Verhaltensweisen veränderten sich. Mit den veränderten Interessen gingen auch andere Freundschaften einher und schließlich neue Bedürfnisse.
Gab es als kleines Kind auf einmal das Gefühl von ICH, so entstand nun allmählich eine Identität im Wechsel von Reflexion und Umwelt. Der Eigenanteil wurde immer größer.

Soziale Zeit
„Sozial sein“ definiert sich immer in Beziehung zu anderen. Über diese Beziehung bewertet sich der Mensch und wird selbst bewertet, als angenehm, unterhaltsam, anspruchsvoll, uninteressant, attraktiv, langweilig und so weiter. Das Selbst entwickelt sich in diesen Spiegelungen. So erfährt es bereits ein kleines Kind, sobald sich ein gemeinsames Spielen entwickelt. Dies setzt sich fort während der Schul-, Ausbildungs- und Berufszeit. Weitere Aspekte als das Fairplay und die Geschicklichkeit kommen hinzu. Auch das Aussehen, Kleidung, Herkunft spielen bereits in der Grundschule eine große Rolle. Allmählich nimmt die Leistungsfähigkeit einen größeren Teil ein.
Schon sehr früh jedoch werden Spiel- und Schulkameraden aus- und abgesondert. Bei allem gemeinsamen Tun, gibt es auch ein Alleinsein, sogar ein Einsamsein. Der Einsame erlebt nicht das unterschwellige Verbundensein mit anderen. Er leidet darunter, wenn er sich abgewertet und ausgestoßen fühlt. Es kann ein verhängnisvoller circulus vitiosus entstehen, vor allem dann, wenn das Selbstwertgefühl nicht gefestigt ist, wenn der Vergleich mit anderen für das eigene Selbst immer negativ ausfällt. Selbstzweifel können Resignation, Rückzug oder auch Aggression auslösen, was wiederum Sozialkontakte erschwert.
Diese Zeit der Entfaltung einer sozialen Persönlichkeit ist zugleich die Zeit in der dauerhafte Beziehungen aufgebaut werden. Freunde und erste Partnerschaften entstehen. Je mehr man sich traut, anderen zu vertrauen, desto größer auch das Risiko, verletzt zu werden. Und wieder kann ein circulus vitiosus sich bilden, diesmal mit einer positiven Erfahrung: Vertrauen schenken, kann belohnt werden durch bereichernde Erlebnisse.
Das Zeiterleben als vergehend steht nicht im Vordergrund der Wahrnehmung; es wird eher als ein Experimentierfeld erfahren. Selbst Enttäuschungen „vergehen“ meist, hinterlassen jedoch Spuren der Erfahrung.

Gestaltete Zeit
Erst allmählich wird Zeit als ein Gut erfahren, das es zu gestalten gilt. Zwar ist die Zeit á priori zugleich mit dem Menschen in der Welt. Aber es scheint so, als würden wir uns dessen erst im Laufe unseres Lebens bewusst, nämlich als etwas, was vergeht und indem es vergeht, Spuren hinterlässt.
Auf einmal entsteht die Frage: was habe ich in der (vergangenen) Zeit gemacht? Habe ich sie so genutzt, um das zu machen, was ich wollte oder auch musste?
Das Pendel zwischen vergeudeter, verlorenen Zeit, dem Zeitstress und der Freizeit, der Zeitvergessenheit schlägt wild hin und her.
Wir fangen an, knauserig mit unserer Zeit umzugehen. Dass sie vergehen kann, tritt scharf ins Bewusstsein. Wir erleben uns nicht nur definiert durch unser Zeiterleben, sondern auch getrieben.

Auf einmal taucht ein Zusammenhang zwischen unserer Existenz und der Zeit auf.

Unsere verschiedenen Aktivitäten, unsere unterschiedlichen Sozialbezüge versuchen wir in ein Zeitraster zu pressen, um alles schaffen zu können. Plötzlich merken wir voller Entsetzen, dass nicht wir unsere Zeit gestalten, sondern wir uns von einem fremden Diktat herum scheuchen lassen. Wenn wir nicht aufpassen, geben wir unsere Selbstbestimmung auf und lassen uns von Zwängen dirigieren. Nicht die Zeit, der Zeitdruck sind schuld, wir sind es selbst. Wir verhalten uns wie Marionetten. Wir überlassen die Entscheidung, was wichtig ist anderen oder dem Zufall, den „Gegebenheiten“. Unser Bewusstsein haben wir eingeschläfert.
Mit jeder bewussten Entscheidung erhalten wir jedoch Zeit zurück und können sie auch dann wieder wahrnehmen. Zeit ist die Organisationsform unseres inneren Sinnes.

Erlebte Zeit
Erlebte Zeit ist zunächst einmal erinnerte Zeit. Ereignisse sind in unserem Gedächtnis verankert.
Manchmal scheint es, als würden wir besonders nachhaltig schlimme Situationen wie Leid und Not erinnern und die beglückenden weniger. Aber stimmt das? Nehmen wir das Schöne in unserem Leben einfach als das Gegebene, Selbstverständliche hin?

Das wäre wirklich traurig, eigentlich sogar schlimm, denn es ist das Beglückende, was unser Leben bereichert und sinnvoll macht. Sich daran zu erinnern, befähigt, sich den Anforderungen zu stellen, stabilisiert das Selbstwertgefühl. Es sind die Inseln, die Oasen, die aus dem grauen Einerlei des Lebenslaufes herausragen und nur sichtbar werden, wenn das Scheinwerferlicht des Bewusstseins sie auch heraushebt.
Doch auch die Zeiten der Not sind ebenfalls Zeiten, die Spuren in unserem Bewusstsein und an unserer Identität hinterlassen. Sie zu verdrängen würde bedeuten, dass wir Teile unseres erlebten Lebens verleugneten, sie ungeschehen machen wollten, so als würden wir einen Teil unseres Selbst abschneiden.

In meiner Erfahrung hängt das größte Glück oft mit dem tiefsten Leid zusammen.
Ich habe eine Partnerschaft erlebt von unglaublicher Leidenschaft und Vertrauen und Intensität. Unterschiedlichkeit erlebten wir als Bereicherung und Geschenk; die Entwicklung des anderen als Beglückung, nicht als Gefahr. Wir machten uns gegenseitig stark. Fantasie und Kreativität verhinderten, dass wir unser Glück als Alltag, als selbstverständlich genommen haben.
Die Zeit unseres Zusammenseins gestalteten wir trotz aller Verrücktheit sehr bewusst. Sie beflügelte uns beide und strahlte auch auf unseren Beruf aus.

Dann brach Krankheit über uns herein, so schlimm, dass auch der Alterungsprozess sich erschreckend verschärfte. Zwar gelang es uns, über lange Zeit die Liebe zu halten, doch dann zerstörte der Tod unser Zusammensein.
Er löschte auch mich über ein Jahr lang aus.
Ich fühlte mich wie der Kugelmensch, von dem Plato berichtete, dass Zeus ihn geteilt habe, damit er nicht zu stark würde. Wir waren stark gewesen. Doch nun war ich nur noch eine Hälfte. Ich war nicht mehr ich. Ich hatte mich nie über meinen Mann definiert, und dennoch schien es, als wäre meine Identität zerborsten. Nein, es war wirklich so.
Wer war ich? Wer bin ich jetzt? Während der langen Krankheit hatte diese qualvolle Situation Spuren in uns gegraben. Doch im Kern waren wir die Gemeinsamkeit geblieben, die darum kämpfte zu leben. Dieses Ziel gab es nicht mehr. Warum aufstehen, essen, sich bewegen?
Ich brauchte sehr, sehr lange, um wieder einen Sinn zu finden.

Und hatte nicht unsere Liebe mich stark gemacht?
In einer existentiellen Krise kann auch eine Chance stecken, wenn es gelingt, die Puzzelteile, die durch die Erschütterung auseinandergefallen sind, wieder neu zu ordnen. Manche Teile werden nicht mehr gebraucht, einige fehlen, andere müssen sich entwickeln, um wieder ein Ganzes, ein neues Ganzes zu bilden.
Und wieder findet eine Häutung statt, der Kern, die Grundstruktur bleibt, wenn auch die Identität sich wieder etwas anders formt.

Wie verändern uns und nehmen so die Zeit wahr.

Gelebte Zeit
Während in der Kindheit, Jugend und im frühen Erwachsenenalter die Zeit „im Rausch“ zu verfliegen scheint – es passiert ja so viel!- verändert sich das Zeiterleben mit zunehmendem Alter. Unterschwellig ahnt man, dass Zeit irgendwie eine höchst endliche Ressource darstellt. Und man beginnt, zunächst zögerlich, mehr auf die Zeit zu achten, sie bewusster wahrzunehmen und Pläne zu entwickeln, sie zu gestalten.

„Gelebte Zeit“ ist die bewusst gelebte Zeit. Wenn wir uns erinnern, geschieht dies stets wie ein Blitz der Bewusstheit. Wir erinnern, was für uns von besonderer Bedeutung war. Das sind durchaus nicht immer die großen Ereignisse wie Liebe, Tod, Entbehrungen, Reisen, Erfolge. Manchmal sind es sogar die scheinbar unspektakulären wie eine Melodie, eine Atmosphäre, ein Gefühl der „Traumverlorenheit“, wo wir ganz bei uns selbst waren, das uns ein unendliches Glücksgefühl bescherte. Der „flow“, in dem Raum und Zeit aufgehoben sind.

Im Alter gewinnt der qualitative Aspekt der Zeit über den quantitativen an Bedeutung.
R.Musil meint:“Sie litten alle unter der Angst, keine Zeit für alles zu haben, und wussten nicht, dass Zeit haben nichts anderes heißt, als keine Zeit für alles zu haben.“

Dieser Perspektivenwechsel scheint uns im Alter leichter zu fallen.
Oder doch nur notgedrungen, weil wir nicht mehr so schnell sind, nicht mehr so viel in einen Tag hineinpacken können? Also nicht der Einsicht, sondern der Realität geschuldet. Verzicht?! Selbst falls dem so sein sollte, bliebe die Aufgabe, sich zu entscheiden, d.h. aktiv sein, gestalten.
Es ist nicht immer leicht, seinem Tag – sagen wir nach dem Rückzug aus dem aktiven Berufsleben – seiner Zeit, eine Struktur zu geben. Was einst oft herbeigesehnt wurde, erweist sich in der Realität als gar nicht so leicht. Wurden Ziel und Sinn manchmal von außen an uns gestellt, dürfen, ja müssen, wir uns nun selbst ein Ziel geben, um aufzustehen und zu leben. Ein solches Ziel sollte nicht nur erreichbar sein, sondern auch befriedigend. Nur so wird die notwendige Motivation entstehen, dabei zu bleiben sowie die Disziplin, um das Geschenk der nun zur Verfügung stehenden freien Zeit auch zu nutzen – und zu genießen.

Erinnerte Zeit
Es geht nicht nur um die Erinnerung an Ereignisse, Menschen und Dinge, sondern auch um das Erinnern an uns selbst. Wer war ich einmal? Was habe ich gedacht, gemacht, was erreicht? Was ist aus mir geworden – im Laufe der Zeit?
Wie war das damals, in meiner Familie, mit meinen Geschwistern und was ist aus ihnen geworden?
Vieles verbindet sich mit Schmunzeln, manches mit Enttäuschung oder gar Erschrecken.
Es ist eine Rückschau auf eine lange Zeitspanne, die wir an all den Veränderungen festmachen.
Wie wir zurückschauen, hängt mit dem Gefühl zusammen, das die Erinnerung in uns auslöst. Sind wir überwiegend positiv gestimmt – zufrieden – oder vielleicht sogar stolz oder eher verbittert, fühlen wir uns betrogen in unserem Leben, weil nicht das Erhoffte eingetreten ist? War zu Beginn unseres Lebens die Zukunft offen für unsere Ideen, so scheint sie nun verstellt durch immer mehr Abhängigkeiten und Bedingungen.

Erinnerte Zeit ist Rückschau.
Sie ist ein Verrechnen von Möglichkeit und Realität. Und wenn es für dieses Aufrechnen noch nicht zu spät ist, geht es um Neu- oder Feinjustierung mit der Fragestellung: was ist noch möglich.
In diesem NOCH ist das Bewusstsein der Endlichkeit unserer Existenz enthalten.
Zuerst vielleicht etwas zaghaft tastend wagen wir uns an die Vorschau, an das, was wir noch erhoffen, uns wünschen, an das „Noch einmal“ oder „Bevor es zu spät ist.“
Und was das dann sein wird, hängt von der Analyse unserer Ziele ab und von der Reflexion unserer Möglichkeiten. Haben wir uns bisher im Leben etwas vorgemacht oder uns doch relativ realistisch verhalten? Ist es uns gelungen, unserem Leben Sinn zu geben?

Spätestens jetzt wird klar, dass die Wahrheit die Tochter der Zeit ist.

Für mich hat sich als das Bedeutendste herausgestellt, meinem Leben einen Sinn zu geben. Dieser hat immer mal kleinere Variationen erfahren, sich aber zunehmend klarer herauskristallisiert. Schließlich hat er entscheidenden Anteil an meiner Identität. Er ist der Kern meines Selbst, von dem aus ich wertend in der Welt agiere, der mein ethisches Handeln in der Welt leitet, meine Authentizität ausmacht.
Wenn dies halbwegs gelingt, hilft es mir sogar über die Falten und anderes Ungemach hinweg.
Es geht um Akzeptanz, nicht um Resignation.

Die Falten nehmen zu, die Sozialkontakte ab. Die Zeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen wird länger.
Die Frage steht da unausweichlich: bin ich der, der ich sein möchte? Kann ich mich auch mit meinen Einschränkungen akzeptieren? Und tun das die anderen auch? Wie viel allein-sein halte ich aus? Wie viel soziales Echo brauche ich? Will ich Kompromisse machen und um welchen Preis?
Nicht jeder mag allein sein, aber wohl kaum jemand einsam.
(An)sprache und Hautkontakt sind kostbare Geschenke im Alter.

Epilog
Während der Kindheit und Jugend spielt die Zeit kaum eine Rolle. In unserem erwachsenen Leben jagen wir atemlos hinter ihr her, weil sie so schnell vergeht. Im Alter wird uns bewusst, dass das Zeiterleben höchst individuell ist. Wir versuchen den Sinn unserer Existenz in ihr zu finden.
Manchmal kommt mir das Leben wie eine Blume, eine Tulpe vor. Eine schmale, grüne Spitze schiebt sich mühsam vor, wird kräftiger grün, entwickelt starke Blätter. Allmählich färbt sich die Knospe und entfaltet sich zu einer stolzen, üppigen Blüte. Und dann vollzieht sich die Metamorphose, die mich immer wieder aufs Neue fasziniert: die Blüte welkt zwar, doch wird sie dabei zu einer unglaublich reich differenzierten Schönheit.