Zur Kunsttherapie gehört auch der Tanz. Als Ina an dies Thema für den kommenden Nachmittag erinnerte und fragte, wer sich darauf vorbereiten wolle, blickte sie in überraschte Gesichter. „Nun, ihre Kultur ist so reich an Tänzen. Ich denke, wir sollten einige davon auswählen, um zu prüfen, welche geeignet sind, sie in der Therapie mit Kindern einzusetzen. Und ganz sicherlich finden sie mehr Beispiele als ich. Sie kennen doch ihre Musik.“ Ein gedehntes „Ja, aber….“ Gleichzeitig jedoch beobachtete Ina, wie sich einige Fußspitzen wippend bewegten. „Wer bringt Musikbeispiele mit?“ „Ja, welche denn?“ „Rock`Roll“, kicherte Ali. „Haben sie denn nicht Beispiele?“, erkundigte sich Seif. „Klar, habe ich. Doch glaube ich kaum, dass ‚Wiener Walzer‘ oder ‚Foxtrott‘ besonders geeignet sind. Sie hören doch ganz andere Musik“. Immer noch herrschte ungläubiges Staunen. „Ich denke Folk-Pop ist besser und der ‚tzaàd Temani‘ zum Beispiel.“ „Den kennen sie?“ „Ja, aber ich habe keine Musikbeispiele. Sie sind die Fachleute.“ Hassan hatte während der Diskussion mit seinem Handy hantiert. „Ich weiß, wir hatten vereinbart, während der Arbeit die Dinger auszulassen“, entschuldigte er sich. „Ich wusste aber, dass ich Musik, auch Tanzmusik überspielt hatte. Meinen sie so etwas?“ Er spielte „Ghina San-aani“, das berühmte Lied von Sana’a. Alle summten, sangen mit. „Ja, so etwas und vor allem Musik, auf die man auch tanzen kann.“ Der Bann schien gebrochen. Einge überprüften Inas Laptop, ob die Anschlüsse passten und versprachen bis zum nächsten Tag, verschiedene Musikbeispiele zu sammeln. Einen Verstärker wollte Ina besorgen.
Während der Pausen des nächsten Vormittags wurde lebhaft über die mitgebrachten Musikbeispiele diskutiert. Die Mittagspause konnte nicht schnell genug zuende gehen. Die Frauen beeilten sich mit dem Essen, um die Männer, die draußen aßen, damit die Frauen ihren Hijab fürs Essen lüften konnten, sogar früher wieder hereinzuholen.
Die Technik wurde vorbereitet, man hatte sich auf das erste Musikbeispiel geeinigt und los ging´s. Das heißt die Musik lief, aber niemand bewegte sich. Die „Techniker“ sahen Ina erwartungsvoll an. „Die Musik ist toll. Aber warum tanzen sie denn nicht? Hier ist doch Platz. In der Pause haben wir extra die Tische zur Seite gerückt.“
„Ja, aber das geht nicht“. „Warum denn nicht?“ „Wir tanzen doch nicht zusammen“. „Auch beim Hochzeitstanz nicht.“ „Und den tza’ad Temani tanzen die Männer allein.“ Allgemeine Ratlosigkeit breitete sich aus. Auch bei Ina. An alle möglichen kulturbedingten Schwierigkeiten hatte sie gedacht und ausgerechnet dabei das Tanzen vergessen! Dabei steckten allen im Raum der Rhythmus in den Gliedern, Fußspitzen wippten, Köpfe nickten, Hände bewegten sich verschämt.
Wie kann man nur das befreiende Gefühl der körperlichen Bewegung erfahren und ebenso die Ordnung schenkende Struktur der Musik, das Mitreißende eines Rhythmus – all das, was Musik zu einem solch kostbaren Medium der Therapie machte, wenn man sich nicht bewegte?
Ina schaute in die enttäuschten Gesichter. Alle, sie selbst auch, hatten sich auf diesen „Tanz-Musik-Seminarnachmittag“ gefreut. Und es schien so, als erwarteten sie nun von Ina das Zauberwort, das ihnen zu tanzen erlaubte, anders als sie es kannten. Schließlich steckte das Seminar bisher voller Unerwartetem, Überraschendem. Und hatte es nicht immer geklappt, wenn sie sich oft nach einem Zögern darauf einließen?
„Wie wäre es“, verkündete Ina plötzlich, „wenn wir auf dem Papier tanzten – mit Farben zur Musik -mit den Pinseln -mit unseren Händen?“ Da die Musik während der ganzen Zeit weiterlief, bewegte Ina ihre Hände zum Rhythmus. Auf einmal fiel ihr ein, wie sie zuhause in ihrem Atelier zur ‚Carmina Burana‘ tanzend ein großes 120×360 Bild gemalt hatte. Einige lachten zuerst verlegen, schüchtern. Es war ihnen ohnehin stets schwer gefallen, beim Arbeiten mit künstlerischen Materialien aufzustehen. Vielleicht sollte man besser sagen, sich zu erlauben, aufzustehen und nun auch noch sich zu bewegen. Allerdings, je mehr sie sich trauten , beidhändig mit zwei Pinseln gleichzeitig zu arbeiten und sich dabei von der Musik leiten zu lassen, desto gelöster wurden sie. Und nachdem sie in einen „erlösenden“ Flow eingetaucht waren, fingen erst einige, dann alle an zu experimentieren, schließlich zu mehreren auf einem großen Papier malend zu tanzen, tanzend zu malen.
Lachend mahnte Ina, auch ‚mal eine Pause zu machen und vielleicht den Männern beim tza’ad Temani, dem faszinierenden jemenitischen Tanz zuzuschauen, den enige bereit waren im Garten zu tanzen, diesem eigentlich jüdisch-jemenitischen Tanz aus dem 14. Jahrhundert mit der typischen schwankenden, komplizierten Schrittfolge.
„Ich habe keine Djambia mit“, wandte Hassan ein. „Ich auch nicht. Keiner von uns,“ ergänzte Seif.
„Aber tanzen könntet ihr ja auch ohne diesen Krummdolch“, schlug Amnah vor.
Magie des Wandels, dachte Ina. Musik und Farbtanz auf dem Papier haben uns ein Stück Freiheit geschenkt.